Das gnädige Fräulein

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Indiana Tribüne” vom 25.03.1905
in: „Über Land und Meer” 1905 Seite204+206


Mit ihrem rechten Vor- und Rufnamen hieß sie Alberta — Maria Elfride Alberta von Riffling. Wie man dazu gekommen war, den unkalendarischen Namen „Tolle” davon herzuleiten, war weder aus der Riffling'schen Familienchronik festzustellen, noch hatte sich eine plausible Ueberlieferung erhalten.

Dieser Name mußte aus einer Zeit stammen, in der das Nesthäkchen des damaligen Oberstleutnants von Riffling noch die Neigung hatte, helle chinaseidene Tischdecken mit einer angelutschten Lakritzenstange zu bemalen oder rittlings die Treppengeländer herunterzusausen.

Das alles lag weit zurück. Aus dem pummeligen kleinen Unband mit den etwas gekrümmten Beinchen und der eigenwilligen Kikerikistimme war ein Backfisch geworden, der seine fünfzehn Lenze und das fußfreie Kleid mit Ernst und Würde trug. Trotzdem hieß sie immer noch Tolle — im Hause, in der Schule, überhaupt bei allen, die sie kannten.

Tolle Riffling drehte die ihr überreichte Karte unschlüssig in den Händen. Einen orientirenden Blick darauf zu werfen, hielt sie für überflüssig. Der junge Mensch mit den feierlichen blauen Augen und dem weißlichen Schnurrbartansatz oberhalb der Mundwinkel war ein Leutnant — eine Erscheinung also, die im Hause des Generals von Riffling den Reiz der Neuheit nicht hatte. Ob der nun Müller oder Kunze hieß, war ja egal.

„Wie gesagt, Papa ist nicht zu Hause.”

„Und die Frau Generalin?”

„Auch nicht. Es ist überhaupt niemand zu Hause. Bloß ich.”

„Das ist aber schade —”

Der Blonde zupfte befangen an seinem Bärtchen. Er machte den Eindruck, als wenn er die Abwesenheit der Herrschaften wirklich bedauere, was Tolle Riffling einigermaßen verwunderte. Meist waren die Leutnants, die aus irgend einem Grunde sich bei ihrem Brigadier zu melden hatten, ganz froh, wenn sie nur ihre Karte abzugeben brauchten.

„Wünschen Sie Papa in einer dienstlichen Angelegenheit zu sprechen oder —”

„Wie man's nehmen will, gnädiges Fräulein; dienstlich, und in gewissem Sinne auch wieder privat.”

Einem jungen Mädchen, das trotz Einsegnung und langer Kleider immer noch „Tolle” genannt wird, ist es nicht zu verdenken, wenn es sich durch ein gelegentliches „gnädiges Fräulein” sympathisch berührt fühlte.

Die dunkelblaue Schleife, die den Scheitel der kleinen Dame schmückte, neigte sich verbindlich. Mit einer hoheitsvollen Bewegung warf Tolle Riffling den Zopf von der Schulter auf den Rücken und gab die Thür frei.

„Bütte, tröten Sie näher — Papa kann jöden Augenblück nach Hause kommen.”

„Wenn Sie gütigst gestatten —”

„Djawohl, bütte.”

Der Leutnant nahm auf dem Stuhle Platz, auf den ihn die Kleine mit einer graziösen Geste verwiesen. Sie selbst setzte sich steif in einen Sessel. Die Karte hatte sie in der Nähe auf ein Tischchen gelegt. Alles gemessen und vornehm, wie sie's an Enmpfangstagen bei Mama gesehen und wie sich das für ein gnädiges Fräulein gehörte. Sie wußte zwar, daß ihr diese Haltung nicht lag und daß sie sie schwerlich würde durchführen können. Augenblicklich aber war ihr so, und sie pflegte in allen Dingen ihren momentanen Eingebungen zu folgen.

Die hohe Flöte im Ton gab sie jedoch schon gleich auf — bewußt und mit Absicht. Sie mußte einen spitzen Mund machen, um so distinguirt zu sprechen, und das kleidete sie nicht.

Außerdem erschien es ihr unfreundlich, einen so ungewandten Menschen noch befangener zu machen.

Sie sprach also wieder ganz natürlich.

„Sind Sie schon lange hier?”

„Seit einer Stunde.”

„Ach so — dann sind Sie gar nicht von hier?”

„Ich komme aus der Residenz, gnädiges Fräulein.”

„Wie interessant! Da kennen Sie vielleicht Marie von Buschow, die vor einem halben Jahr mit ihren Eltern nach dort verzogen ist —”

„Habe leider nicht den Vorzug,” erwiderte der Blonde, der jede Antwort mit einer kurzen Verbeugung begleitete. Wenn sie sprach, schauten die feierlichen blauen Augen groß und mit einer gespannten, fast ängstlichen Aufmerksamkeit. Antwortete er, so senkte er den Blick — entweder auf die Spitze seines Helms, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger der schneeweiß behandschuhten Rechten balancirte, oder auf die Füße der kleinen Dame.

So absichtslos das geschah, war es Tolle Riffling doch genierlich. An dem einen Schuh war die Schleife nicht mehr ganz fest. Sie zog die Füße unter den Sessel und plauderte lebhafter.

„Wir werden jetzt auch öfter nach der Residenz kommen. Meine Schwester heirathet nämlich den Baron von Nehrkorn, Jägermeister des Herzogs, Kennen Sie Helmold von Nehrkorn?”

„O ja — sehr gut. Ich —”

Er stoppte erröthend ab, da die Kleine ihm begeistert in's Wort fiel:

„Das ist reizend! Ein riesig netter Mensch, nicht wahr? Wir stehen uns famos miteinander. Für den lasse ich mir auch gern all' den Trubel im Hause gefallen. Denn, wissen Sie, solche Hochzeitsvorbereitungen sind greulich. Wochenlang ist von nichts anderm die Rede, und alles dreht sich darum. Daß ich hier allein zu Hause sitze, hängt auch damit zusammen. Mama macht mit Eri und der Zofe Einkäufe. Heute wie alle Tage. Man denkt, man hat alles, und schließlich fehlt immer noch was. Das Mädchen ist mit der Waschfrau und den Burschen auf dem Hofe und hängt die Brautwäsche auf. Eine Unmenge, sage ich Ihnen. Fünf große Körbe. Ich habe vorhin einen sehr schönen Kranz geflochten, der dazugehängt werden soll — weil das Glück bringt.”

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich gestört habe —” stotterte der Leutnant.

„Ach nein. Bleiben Sie, bitte, sitzen. Sie dürfen nur nicht so auf meine Hände sehen — die sind von dem Flechten nicht ganz sauber.” Sie legte die Visitenkarte, mit der sie während der Unterhaltung gespielt hatte, auf den Tisch und verschränkte die Finger. „Ja. Was wollte ich doch noch sagen — ganz recht: dem armen Papa geht's noch schlimmer. Seit heute früh ist er zu jedem Zuge auf der Bahn. Der Prinz ist angemeldet. Prinz Flieder. Er soll die Glückwünsche des Herzogs überbringen. Da er auch mit dem Dreiuhrzug nicht gekommen ist, sind Mama und Eri einkaufen gegangen. Papa läuft aber noch unentwegt zur Bahn. Ist eigentlich eine furchtbare Unvernünftigkeit vom Hof. Man schreibt doch wenigstens Bescheid: mit dem und dem Zuge komme ich. — Vielleicht stellen Sie Ihren Helm unter den Stuhl, Herr Leutnant.”

Die blitzblanke militärische Kopfbedeckung war den Händen des Blonden entfallen und ziemlich weit über den Teppich getrudelt. Nachdem der Leutnant den Helm ergriffen, stellte er ihn gehorsam an die bezeichnete Stelle. Das Knabengesicht hatte sich geröthet und die feierlichen blauen Augen blickten geradezu verstört.

Tolle Riffling bemühte sich mit feinem Takt, ihm durch besondere Munterkeit über sein Mißgeschick hinwegzuhelfen.

„Aber das ist so mit den hohen Herrschaften,” zwitscherte sie leichthin. „Selbst ihre Güte und Liebenswürdigkeit ist immer ein bischen überkandidelt. Auf den Prinzen bin ich nun ganz besonders neugierig. Er soll unglaublich schüchtern sein, auf alles Gedichte machen und eine geradezu verdrehte Vorliebe für Flieder haben. Daher Prinz Flieder. Unser rother Salon nebenan ist ganz unter Flieder gesetzt. Das hat einen Haufen Geld gekostet und duftet zum Umfallen. Wenn er nun heute nicht kommt, ist die ganze Ovation hin. Da Sie in der Residenz leben, kennen Sie den Prinzen natürlich.”

Der Leutnant klappte in einer zustimmenden Verbeugung vornüber. In seiner brennenden Befangenheit achtete er jedoch nicht des Helms, der unter dem Stuhle stand. Die nach hinten scharrenden Füße setzten ihn abermals in Bewegung. Und da der Blonde sich eilig erhob, um ihm nachzulaufen, warf er auch den Stuhl um.

Tolle Riffling lachte hell auf. Gleich darauf that ihr das leid. Der Aermste machte eine zu unglückliche Figur. Er schien Neigung zu haben, sich zu verabschieden — und das wäre ihr sonst auch ganz recht gewesen. Die Eltern kamen immer noch nicht, und die Nachmittagssonne warf ihre letzten schrägen Strahlen durch die Stores. In den Ecken des Zimmers lauerte bereits die Dämmerung. Mit einem solchen Abgang aber konnte sie den Menschen unmöglich entlassen. Das erlaubte ihr gutes Herz nicht Sie lud ihn also freundlich ein, wieder Platz zu nehmen — eine Aufforderung, welcher der Blonde denn auch zögernd folgte.

Tolle Riffling wußte jedoch nicht gleich, womit sie den Gast weiter unterhalten sollte. Außerdem kam es ihr zum Bewußtsein, daß es doch wohl nicht richtig gewesen war, einen fremden Herrn allein zu empfangen — und diese Erkenntniß beunruhigte sie. Besonders, da es schon dämmerte. Immer mehr und mehr. Erna Pohlmann, die nur knapp ein Jahr älter war, hatte einmal erzählt, wie ihr in einer ähnlichen Situation eine Liebeserklärung gemacht worden sei, ganz unversehens und aus heiler Haut. Tolle Riffling streifte den Blonden mit einem Seitenblick voller Sorge und Mißtrauen, und ein eisiger Schreck kroch ihr den Rücken hinauf.

In den feierlichen blauen Augen flammte etwas wie ein Entschluß. Er fuhr mit dem Zeigefinger an der Innenseite seines Uniformkragens entlang, als wenn er sich Luft machen wollte. Dann räusperte auch er sich und sagte: „Mein gnädiges Fräulein, ich bitte um die Erlaubniß, eine Erklärung —”

Weiter kam er nicht. Tolle Riffling hatte einen Bleistift ergriffen, dessen Spitze eilig abgeleckt und zeichnete angelegentlich auf der Rückseite der Visitenkarte. Dabei fragte sie, ohne aufzusehen:

„Können Sie Bilderrätsel lösen, Herr Leutnant?”

„Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein — habe mich noch nicht recht darin versucht.”

„Aber ganz was Leichtes werden Sie doch 'rauskriegen. Passen Sie mal auf: erst ein kleines c und darüber ein großes W. Was ist das?”

Der Leutnant rutschte auf seinem Stuhle hin und her und machte den verunglückten Versuch eines Lächelns.

„Nun, da ist doch ganz einfach,” rief sie mit forcirter Lustigkeit. „Das bedeutet Hühnerauge!”

„Hühnerauge — hm — ganz recht —”

„Na ja — ein großes Weh auf dem kleinen Zeh!”

„Ausgezeichnet. Sehr drollig.”

„Nicht wahr? Da will ich Ihnen gleich noch eins aufgeben. Das ist aber schon schwieriger. Ein alter Oberförster kommt an seinen Stammtisch, und zwar gegen die Gewohnheit ohne seinen Teckel. Nach dem Verbleib von Männe befragt, zeichnet er folgendes auf den Tisch: Ein großes W — so! Und in diesem W die Initialen N II, F J, und E VII., was so viel bedeutet wie Nikolaus der zweite, Franz Josef und Eduard der Siebente. Was bedeutet das?”

Der Leutnant zog die blonden Brauen hoch und scheuerte rathlos seine Knie mit beiden Händen.

„Das wissen Sie auch nicht?”

„Ich muß gestehen —”

„Damit ist ganz klar ausgedrückt, was dem Teckel gefehlt: die Potentaten im W. Richtig ausgesprochen: die Poten thaten ihm weh! — Stimmts?”

„Das ist köstlich!”

Und dabei glückte ihm wirklich ein Lächeln.

„Jetzt werde ich Ihnen noch in je drei Zügen ein lustiges und ein trauriges Schwein zeichnen.”

Alsbald hielt sie ihm die Karte hin. Er warf einen höflich interessirten Blick darauf und verbeugte sich anerkennend. Das traurige Schwein schien aber seine Stimmung übel beeinflußt zu haben. Die blauen Augen waren wieder ernst und feierlich.

„Da Ihre verehrten Eltern immer noch nicht kommen, gnädiges Fräulein, kann ich nicht umhin —”

„Sind Sie musikalisch, Herr Leutnant?” fragte Tolle Riffling, indem sie vom Fenster, aus dem sie ängstlich einige Sekunden gespäht hatte, zum Flügel ging.

„Nur wenig.”

„Aber den Flohwalzer können Sie doch begleiten — den kann ich nämlich mit der Nase spielen, was gar nicht so leicht ist.”

„Wenn Sie befehlen, will ich die Begleitung gern versuchen,” bemerkte der Leutnant resignirt.

Als er sich aber erhob, wehrte Tolle Riffling mit beiden Händen ab.

„Nein, nein! Lassen Sie nur! Ein andermal. Vielleicht haben wir bald wieder das Vergnügen. Mir fällt eben ein — es wird doch Zeit, daß ich den Kranz herunterbringe. Ich wollte meine Schwester bei ihrer Heimkehr damit überraschen. Sie können ja mit 'runterkommen, nicht wahr? Es ist draußen viel netter wie im dumpfen Zimmer, und die Wäscheausstattung meiner Schwester ist thatsächlich eine Sehenswürdigkeit. Einen Augenblick entschuldigen Sie nur, ich werden den Kranz gleich holen!”

Der Blonde schien jeden Widerstand aufgegeben zu haben. Zum stillen Gaudium der bei der Wäsche thätigen Bedienung war er behilflich, den glückbringenden Kranz an einer der höchsten Stützen anzubringen. Zur Belohnung wurde er dann von Tolle Riffling durch die langen Reihen flatternder Batistes geführt und seine Bewunderung auf eine besonders schöne Stickerei oder kostbare Spitze gelenkt.

Alle Sorge und Befangenheit war von Tolle Riffling gewichen. Sie freute sich des famosen Einfalls, durch den sie den Gast aus dem Zimmer geluchst, und wußte es auch so einzurichten, daß er nicht wieder mit nach oben kam, sondern sich auf dem Hofe verabschiedete.

Tolle Riffling war wieder einmal außerordentlich mit sich zufrieden.

Eine knappe Stunde später jedoch fühlte sie ihre Zuversicht bedeutend erschüttert. Papa hatte im Kasino erfahren, daß der Prinz mittels Automobils eingetroffen sei, sich nur umgezogen habe und alsbald fortgegangen sei, um dem Herrn General seinen Besuch zu machen. Darauf war Papa athemlos angestürmt und hatte die Visitenkarte gefunden. Auf der einen Seite stand „Prinz Erich Woldemar”, auf der andern Seite befanden sich unterschiedliche Kritzeleien, sowie ein lustiges und ein trauriges Schweinchen . . .

In's Gebet genommen, schwur Tolle Stein und Bein, den Prinzen hervorragend gut aufgenommen und vortrefflich unterhalten zu haben. Er wäre denn auch so aufgekratzt gewesen, daß er ihr geholfen habe, den Kranz anzubringen — für den sich Eri übrigens noch nicht einmal bedankt habe. Die Ausstattung hätte ihm auch sehr gut gefallen.

Während Mama in eine wohlthätige Ohnmacht fiel, raste Papa davon — wahrscheinlich, um den hohen Herrn noch zu greifen. Er hat ihn nicht mehr erwischt. Tolle Riffling aber sah sich glänzend rehabilitirt durch ein wunderschönes Gedicht, das sie noch an demselben Abend erhielt, nebst einem kostbaren Strauß weißen Flieders.

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